Unser nächster Stopp ist wieder ein Campingplatz – knapp drei Stunden entfernt von Lesnovo und schon in Bulgarien. Wir wollen ins Rila-Gebirge. Unsere Wahl fällt auf den Campingplatz „Verila“ im Ferienort Saparewa Banja.
Es ist auffällig, dass wir auf dem Platz mit niemandem in Kontakt kommen. Einige der Hütten sind belegt und auch die Stellplatz-Wiese ist fast ausgebucht. Aber jeder bleibt für sich. Unsere direkten Nachbarn sagen kurz nur hallo und drehen sich dann gleich wieder weg, um irgendetwas zu tun. Diese Distanz sind wir gar nicht mehr gewohnt, deshalb bleibt sie uns in Erinnerung.
Wir haben von der Sieben-Seen-Wanderung gelesen, die als must-do im Rila-Gebirge empfohlen wird. So packen wir unsere Sieben-Sachen zusammen und fahren weiter zur Talstation des Sessellifts. Dieser – so haben wir gelesen – bringt uns zum Ausgangspunkt der Wanderungen. Die Einfahrt in den Nationalpark ist kostenpflichtig und so lassen wir ein paar Lew beim Park-Ranger am Eingang. Die letzten Meter bis zum Sessellift führen steil bergauf. Links und rechts der Straße parken viele PKW und nur zwei kleinere Vans. Wir stehen dann auch so schräg, dass uns beim aussteigen die Schwerkraft regelrecht aus der Tür saugt. Auch um die Tür wieder zu schließen, müssen wir einiges an Kraft aufbringen.
Wir laufen die letzten Meter zum Sessellift und … nichts. Keine wackelnden Gondeln, keine vorfreudigen Ausflügler. Ausgerechnet heute ist der Lift wegen Wartungsarbeiten geschlossen. Jetzt haben wir drei Möglichkeiten: es sein lassen – das kommt aber nicht in Frage – zwei Stunden immer bergauf laufen, um an den Ausgangspunkt der eigentlichen Wanderung zu gelangen oder eine Fahrt mit dem Jeep. Sie stehen als Alternative zum Sessellift bereit. Wir haben uns ziemlich schnell entschieden.
Für eine gemütliche Fahrt hat unser Jeep Platz für sieben Personen. Gemütlich kostet aber vermutlich extra und so stapelt der Fahrer schließlich elf Wanderlustige aus verschiedenen Teilen der Welt in seinen Wagen.
Gute zwanzig Minuten holpern wir entlang der Seilbahn-Schneise Richtung Gipfel. Und bekommen eine Ahnung, woher der Ausdruck „über Stock und Stein“ stammen könnte. Das Auto knirscht und knarzt und schüttelt uns ordentlich durch. Wir sitzen ganz hinten und werden durch die Schräglage und die unvorhersehbaren Unebenheiten von unseren Sitznachbarn gegen die Hecktür gedrückt. Hier können wir uns gut im Vertrauen darin üben, dass diese geschlossen bleibt und wir nicht wie nasse Säcke hinten herauspurzeln.
Das ist die bemerkenswerteste Fahrt meines Lebens und ich bin froh, dass der Lift heute Ruhetag hat.
Oben angekommen, müssen wir diese Fahrt erst mal sacken lassen, bevor wir den restlichen Anstieg zur Berghütte „Rila Lake Lodge“ auf 2.150 Metern- dem eigentlichen Start der Wanderung – in Angriff nehmen.
Die Seen liegen auf 2.100 bis 2.535 Meter Höhe und tragen unterschiedliche, ihrer jeweiligen Eigenschaft abgeleitete Namen. Der höchstgelegene ist die Träne, dann folgen das Auge, die Niere, der Zwilling, das Kleeblatt, der Fischsee und der Untere See in 2.095 Metern Höhe.
Hier oben hat der Winter einen Rückzugsort gefunden. Er hält sich an den Bergflanken fest und liegt vereinzelt noch in den Senken. Doch die Sonne und der Frühling gewinnen zunehmend an Stärke. Vielerorts bilden Krokuswiesen einen farbigen Kontrast zu ihrer Umgebung. Auf einigen der sieben Seen liegen noch Schneeteppiche aber das Tauwetter hat sichtbar eingesetzt. Überall sprudelt und plätschert Wasser in Richtung Tal. Wir genießen diese Landschaft sehr. Die anderen Wanderer haben sich verteilt und so haben wir die meiste Zeit diesen wunderschönen Flecken Erde für uns allein.
Es ist möglich, alle sieben Seen auf einmal zu sehen. Dazu müssten wir jedoch noch einmal einen recht steilen Berg hinauf. Wir trauen uns diese Anstrengung heute nicht mehr zu und verzichten schweren Herzens darauf. Ein bisschen wehmütig sehen wir anderen Wanderern hinterher, wie sie flinken Schrittes die Flanke erklimmen. Aber wir sind weder so schnell noch so fit, um es ihnen gleich zu tun. Deshalb sei an dieser Stelle auf das Bild auf diesem Blog verwiesen.
Nach einigen Stunden sind wir mit schweren Beinen zurück am Ausgangspunkt. Dort steht ein gelber Pickup-Truck neueren Datums. Der Fahrer ignoriert uns und wartet weiter auf seine zahlende Kundschaft – gemütlich kostet eben extra. Nicht lange nach uns erreicht die beiden Passagiere dann auch den Truck und lassen sich zurückfahren ins Tal.
Während wir auf unseren Jeep warten, erreichen uns weitere Wanderer. Am Ende sind wir wieder elf Personen. Diesmal jedoch drückt uns niemand gegen die Hecktür, sondern wir drücken in die andere Richtung.
Nach diesem sehr eindrucksvollen aber auch anstrengenden Tag entscheiden wir, hier oben zu übernachten. Wir finden ein kleines Ausflugslokal und fragen, ob wir auf dessen Parkplatz über Nacht stehen bleiben dürfen. Sie zucken nur mit den Schultern – es scheint ihnen egal zu sein. Also parken wir um, denn dieser Platz ist die einzige ebene Fläche weit und breit. An diesem Abend fühlen wir uns, als wären wir die einzigen Menschen auf diesem Planeten. Nichts ist hier oben zu hören, es herrscht vollkommene Stille.
21. – 23. Mai 2022