Als wir den Nationalpark verlassen, sitzt kein Ranger mehr in seinem Häuschen. Es ist Montag und vermutlich gilt der Eintritt zu dieser Jahreszeit nur an Wochenenden. Es hat sich definitiv gelohnt. Vor allem die Einsamkeit inmitten der Natur. Theoretisch hätte uns einiges Großwild besuchen können. Neben verschiedenen Hirscharten leben hier auch Braunbären, Wölfe und Ziesel. Keinen davon haben wir gesehen oder auch nur gehört. Ob sie in der Nähe waren wissen wir nicht – dafür sind unsere Sinne und Instinkte nicht trainiert genug.
Für bulgarische Straßen ist eine Mautgebühr zu zahlen. Diese haben wir gleich an der ersten Tankstelle nach der Grenze für 14 Tage erworben. Die Einnahmen direkt nach Einführung der Maut gingen vermutlich in die Überwachungstechnik, mit der hochmodern und digital per Nummernschild-Scan die Zahlung der Maut überprüft wird. So mancher Straße hätte es gut getan, wenn etwas von dem Geld in ihre Sanierung geflossen wäre. In keinem anderen Land auf unserer Reise haben wir schlechtere Straßen gesehen. Und in keinem anderen Land war es schmerzhafter, wenn wir einem Schlagloch nicht ausweichen konnten oder wenn – was auch nicht selten vorkam – wir uns entscheiden mussten, durch welches wir fahren.
Wir sind ein bisschen planlos, suchen nach schönen Orten, die uns zum verweilen einladen. Der Funke springt leider nicht so richtig über. An sich ist das Land schön aber irgendetwas fehlt. Wir fühlen uns ignoriert. Nicht, dass wir uns permanente Aufmerksamkeit wünschen. Aber die kleinen Gesten – ein lächeln hier, ein grüßen da – fehlen uns. Ich glaube nicht, dass es grundsätzlich so ist aber uns fällt es auf. Vielleicht haben wir aber auch einfach eine komische Zeit in Bulgarien erwischt.
Die kyrillischen Buchstaben machen es uns auch nicht gerade leichter, die Orientierung zu behalten. Orts- und Straßenschilder zu identifizieren mag noch gehen, schließlich können wir zumindest die Buchstaben entziffern und mehr oder weniger sinnvoll zusammensetzen. Aber damit hört es dann auch schon wieder auf. Es ist eben doch zu lang her, seit mein Russischlehrer Herr Appelt versucht hat, es in meinen Kopf zu bekommen. Und ich kann mich auch noch sehr gut daran erinnern, dass in der siebten Klasse – als wir begannen, englisch zu lernen – russisch für mich keine Relevanz mehr hatte. Ich hab es nur noch gelernt, weil es eben Schulstoff war. Heute würde ich mein Vater zustimmen: wäre ich aufmerksamer geblieben – wer weiß, vielleicht hätte uns das hier in Bulgarien vor der Sprachlosigkeit bewahrt.
Wir wünschen uns ein bisschen Beständigkeit, einen Ort, an dem wir ein paar Tage sein können. Also fragen wir unsere App, wo ein schöner Campingplatz ist. Und finden den Garten von Matt in Alexandrovo (Александрово). Matt kommt aus Großbritannien und erzählt uns, dass er vor ein paar Jahren nach einem Ort gesucht hat, an dem er mit seiner Familie sein kann. Es war ihm egal, wo er letztlich landet, so dass er schließlich das Haus mit Grundstück in Bulgarien erwarb. In Handarbeit baut er Stück für Stück den Platz für Camper und Zelter auf und immer weiter aus.
Wir sind bei unserer Ankunft die einzigen Besucher und können uns den schönsten Platz aussuchen. Wir bleiben ein paar Tage und genießen es, auch einfach mal nichts zu müssen – es reduziert sich auf das Wesentliche: wir haben einen Platz, den wir kennen und an dem wir uns wohl fühlen. Dafür hat Matt wirklich ein kleines Paradies geschaffen. Und es wird noch paradiesischer, denn er baut gerade Stein für Stein an einem Pool für sich und seine Gäste. Update: Inzwischen ist der Pool fertig, haben wir auf seiner Internetseite gesehen.
Nach und nach klingeln Gäste am Tor und der Platz füllt sich. So bauen dann auch ein Pärchen und zwei junge Männer ihre Zelte auf. Alle vier kommen aus den Niederlanden und sind mit dem Fahrrad unterwegs nach China. Das beeindruckt uns ungemein. Nicht nur die körperliche Anstrengung. Auf dem Fahrrad ist man allem direkt ausgesetzt. Wind und Wetter, Situationen und Gegebenheiten. Wir hingegen haben immer noch unsere schützende Hülle um uns. Wir haben ein Dach über dem Kopf und können auch schnell den Ort wechseln, wenn etwas sich nicht gut anfühlt. Mit Fahrrad und Zelt jedoch ist das nicht so leicht möglich. Für die vier ist das nicht ihre erste Reise dieser Art, sie sind guter Laune, freuen sich auf alles was kommt und gönnen sich bei Matt einen Ruhetag.
Eines Nachmittags sehen wir zu, wie sich über uns beeindruckende Wolkentürme aufbauen. Und hören auf einmal ein pfeiffen, gefolgt von einem Knall. Es klingt ein bisschen, als hätte jemand Silvester verpasst und verschiesst nun seine letzten Raketen. Wir können das alles nicht so recht einordnen bis uns Matt erzählt, dass es sich um Hagelraketen handelt. Sie verteilen weder Licht noch Farben sondern versprühen Silberjodid in den Wolken. An dessen Molekülen haftet das Wasser an und bildet so viele kleinere Hagelkörner. Diese richten deutlich weniger und manchmal gar keinen Schaden mehr an. Rund 200 dieser Raketenstartplätze gibt es in Bulgarien. Wer es genauer wissen will, kann es in diesem Artikel nachlesen.
24. – 28. Mai 2022