Wie jeden Tag auf der Reise wache ich kurz nach 6 Uhr am Morgen auf. Dann setze ich mich auf den Beifahrersitz, schreibe Blog und genieße die Aussicht auf das Wasser vor mir. Im Hintergrund streiten sich Vögel um Nahrung, sonst ist alles still. Die Camper über mir höre ich nur, wenn sie die Motoren ihrer Autos oder Wohnmobile starten. Für Vancouver Island habe ich bisher noch keinen wirklichen Plan. Ich hab keine Ahnung, was mich auf der Insel erwartet. Wale möchte ich sehen, Bären und Weißkopfseeadler. Die stehen noch auf der to do-Liste. Alles weitere lasse ich auf mich zukommen.

ganz unten versteckt steht der Camper

Auch wenn Angela und Kevin gestern Abend von Victoria geschwärmt haben, kann ich mich einfach nicht dafür entscheiden. Ich überlege noch hin und her, denn ich bin auf der Häfte der Strecke zwischen Nord und Süd. Für beides werde ich keine Zeit haben, ich muss mich also entscheiden. Also verwerfe ich wieder die Stadt und entscheide mich für den Norden. Über Google und Park4Night recherchiere ich einen geeigneten Zielort.

Bevor ich losfahren kann, muss ich aber noch die Handbremse anschauen, die sich am Vortag festgehakt hat und nun nur schwer wieder zu lösen geht. Die Handbremse ist hier eher eine Feststellbremse. Sie liegt da, wo bei uns die Kupplung ist. Allerdings ist sie etwas höher angebracht, um sie nicht aus Versehen während der Fahrt zu drücken. Gelöst werden kann sie, indem man einen Hebel zieht, ungefähr da, wo bei uns der Hebel für das öffnen der Motorhaube ist. Und dieser hat sich verklemmt und lässt sich nur noch schwer ziehen. Ich ziehe und rüttle ihn etwas, biss er sich schließlich mit einem Ruck nach links löst und die Bremse aus ihrer Verankerung springt.

Als ich an der Sani-Station ankomme, sehe ich plötzlich, wie kleinere Rinnsale über den Fußboden des Campers fließen. Das Eisfach im Kühlschrank ist über Nacht zur Hälfte abgetaut. Am Abend zuvor hatte ich den Kühlschrank etwas wärmer eingestellt, weil er mir zu kalt war. Das ist also das Ergebnis. Vermutlich ist den Kanadiern eiskalt gerade die richtige Temperatur. Also wische ich, nachdem ich das Abwasser entleert habe, auch noch den Boden und damit gleich einmal gründlich durch.

Ich fahr Richtung Norden, fast an der Küste entlang. Hier gibt es zwei Hauptstraßen – den Highway 19 und die Straße 19 A. Der Highway führt über Land, die 19 A ist eher eine Panoramastraße direkt am Meer. Aber irgendwie verpasse ich deren Auffahrt und fahre die ersten Kilometer über den etwas langweiligeren Highway.

Frühling am Highway

Als ich an der Kreuzung zum Alberni Highway 4 ankomme, biege ich spontan nach Westen ab. Hier liegt nur ein paar Kilometer entfernt Cathedral Grove. Davon haben Angela und Kevin auch sehr geschwärmt. 20 Kilometer sind es bis dahin und die Straße ist gut befahren. Ständig sind Autos hinter mir und es gibt nur wenige Stellen, um rechts rauszufahren und anzuhalten.

Cathedral Grove ist ein Wald im MacMillan Park, in dem riesige, bis zu 800 Jahre alte Douglasien-Bäume wachsen. Die größten Bäume können dabei einen Durchmesser von neun Metern erreichen. Überall an den Bäumen wachsen Flechten, was dem Wald etwas verwunschenes gibt. Als ich ankomme, muss ich erst einmal realisieren, was ich da sehe. Mitten im Wald gibt es links und rechts der Straße plötzlich eine Parkbucht, in denen an jeder Seite vielleicht 10 – 15 Autos stehen können. Alle Nischen sind besetzt. Ich habe hier keine Chance, anzuhalten. Etwas enttäuscht fahre ich weiter. Es gibt weitere kleine Buchten, die aber alle mit PKWs besetzt sind. An der nächstmöglichen Stelle drehe ich um und versuche mein Glück auf der anderen Seite. Spontan bestelle ich bei der Glücksfee einen freien Platz aber sie scheint gerade beschäftigt zu sein. Bei dem Andrang auch kein Wunder. Auch auf der anderen Seite ist alles voll. Im vorbeifahren sehe ich Gruppen von Menschen, die den Cathedral Grove Trail gehen. Für mich gibt es dieses Spektakel heute leider nicht.

Ich fahre zurück zum Highway 19 und und erkläre Campbell River zu meinem nächsten Ziel. Es liegt auf dem Weg nach Port McNeill, das sehr weit nördlich der Insel liegt. Da wollte ich ursprünglich hin, aber bis dahin wären es ab Campbell River noch einmal knapp 200 Kilometer. Die Entfernungen hier sind wirklich nicht zu unterschätzen. Zumal es auch nicht so viele Straßen gibt. Und so weisen auch einige Straßenschilder darauf hin, dass die nächste Tankstelle schon mal 90 Kilometer entfernt sein kann.

Die Fahrt auf dem Highway ist entspannt und ich kann meine 90 km/h fahren, als es plötzlich einen heftigen Schlag gegen das Auto gibt. Das kenne ich schon. Fast täglich knallt mindestens ein Stein gegen den Wagen, was sich anhört, als reißt es ein Stück aus dessen Außenhaut. Doch dieses knallen war irgendwie anders. Und als ich zum Scheibenwischer auf der Beifahrerseite schaue, sehe ich die Einschlagstelle in der Windschutzscheibe. Sie hat ungefähr die Größe eines Dollars, der nur wenig größer ist als das ein Euro Stück. Bei der nächsten Gelegenheit fahre ich rechts raus und begutachte den Schaden. Die Scheibe hat eine ganz schönen Krater, doch zum Glück nur äußerlich. Ich würde sagen, Glück gehabt.

Port McNeill war deshalb mein ursprüngliches Ziel, weil dieser Ort so weit im Norden liegt, dass er als Hotspot für Walbeobachtungen gilt. Vor allem Orcas sollen hier gut zu sehen sein. Jetzt bin ich 200 Kilometer südlicher aber ich will mein Glück versuchen. Als ich auf dem First Nations „Thunderbird RV Park & Cottage Resort“ ankomme, lese ich ein Schild für Whalewatching, dass direkt am Campingplatz gebucht werden kann. Die Frau am Schalter interessiert das erst einmal nicht, sie stellt ihre einstudierten Fragen und tippt alles mit unbewegter Mine in den Computer ein. Dafür ist ihre Kollegin umso beflissener, mir zu helfen. Schließlich bleibe ich dadurch auch vielleicht zwei Nächte auf ihrem Platz. „Aboriginal Tours“, die nach ihrer Information die besten sind, haben leider am kommenden Tag keine Tour. „Aber das ist nur optional, wir können gern anrufen, ob sie vielleicht doch am nächsten Tag rausfahren.“ Dieses Telefonat übernimmt sie für mich und auch die Recherche für die Alternative. Es wird schließlich die Alternative und ich muss mich entscheiden: 6 Stunden im Zoodiac oder in einem überdachten Boot, sogar mit WC. Mit dem Zoodiac raus auf die offene See kann ich mir nicht vorstellen und so buche ich für den nächsten Tag eine 6-stündige Tour zu den Walen mit „Eagle Eye Adventures“.

Ich bin gern vorbereitet und laufe vom Campground noch eine gute halbe Stunde rein zu „Eagle Eye Adventures“, um am nächsten Morgen nicht erst suchen zu müssen. Dabei komme ich an einem typischen Einkaufszentrum vorbei, dass um die Uhrzeit schon ziemlich verlassen aussieht. Diese Orte sehen weltweit irgendwie alle gleich aus, vor allem, wenn kaum Besucher da sind: ein riesiger asphaltierter Platz, umstanden von uninspirierten Bauten, in denen die unterschiedlichsten Waren und Dienste angeboten werden.

Nicht weit dahinter liegt der Friedhof der First Nations. Mir gefallen die verzierten Totempfähle, die auf ihre ganz eigene Weise das Leben des Verstorbenen feiern. Sie Friedhöfe, die ich hier sehe, sind alle recht einfach. Kaum ein Kreuz oder ein Grabstein. Meist nur ein kleiner Ort auf einer Wiese, an der Blumen liegen.

Friedhof der First Nations

Ein Stück weiter komme ich an homeless people vorbei, die ihre Einkaufswagen mit ihren Habseligkeiten vor sich her schieben. Einer davon grüßt zwar, aber seine Augen scheinen nicht viel von der Welt mitzubekommen. Die ersten homeless people sehe ich tatsächlich erst an diesem Ort. Aber auch unterwegs sind mir die zum Teil ziemlich heruntergekommenen Trailerparks an den Straßenrändern aufgefallen. Aber Trailer heißt hier nicht gleich verwahrlost. Es gibt genug Trailerparks, in denen die Unterkünfte gepflegt und mit liebevoll angelegten Gärten versehen sind.

Hafen in Campbell River
Häuser unterwegs

Auf dem Campingplatz gibt es eine Laundry mit Waschmaschinen und Trocknern. Besser kann es nicht laufen. Ich schnappe mir meine Klamotten und werfe sie alle in die Waschmaschine, die damit zu gut 10 Prozent gefüllt ist. Beim Waschmittel erwische ich die parfümierten Tücher für die Trockner. Als ich das bemerke, werfe ich trotzdem kurzerhand eins in die Trommel und hoffe darauf, dass ich am Ende nicht tausend Fussel von Hosenbeinen und Shirts pflücken muss. Aber alles geht gut. Innerhalb von 1,5 Stunden sind meine sieben Sachsen gewaschen und getrocknet und riechen nur ganz leicht nach frisch gewaschener Wäsche. So mag ich das.

Am nächsten Tag geht es also zu den Orcas. Endlich. Diese Tiere möchte ich schon so lange in freier Wildbahn sehen. Und heute ist es soweit. 11 Uhr startet die Tour.

Ich habe noch Zeit und nutze sie, um den Steinschlag vom Tag zuvor „Cruise Canada“ zu melden. Im Vertrag steht, dass jeder Unfall innerhalb von 24 Stunden gemeldet werden muss. Ein Unfall ist es ja zum Glück nicht, aber ich will auf Nummer sicher gehen. Jetzt freue ich mich darüber, dass ich in Calgary eine echte SIM-Karte mit Telefonnummer gekauft habe. Ursprünglich wollte ich eine eSIM schon in Deutschland kaufen, um vom ersten Moment an mit Internet versorgt zu sein. Doch die Recherche, ob mein Handy für eSIM geht oder nicht hatte ich so oft unterbrochen, bis es schließlich zu spät war. Jetzt ist es ein Glücksfall. Ich zücke mein Handy mit der kanadischen Telefonnummer und rufe an. Vor Telefonaten in englisch habe ich immer einigen Respekt. Im direkten Gespräch habe ich Mimik und Gestik, um fehlende Worte am Gesichtsausdruck auszugleichen. Am Telefon zählen nur Vokabeln.

Ich schildere der Frau am anderen Ende was passiert ist und sie beschließt, es als Unfall aufzunehmen. Rund 20 Minuten dauert das Gespräch, das unerwartet gut verläuft. Schließlich gibt sie mir noch eine Telefonnummer, an die ich über WhatsApp Bilder vom Schaden senden soll. Dann ist alles erledigt.

Dann laufe ich zum Hafen. Dort treffe ich Skipper Andres und die anderen acht Seeleute für die kommenden Stunden. Dann fährt das kleine Boot mit uns aus dem Hafen und nur wenig später sehen wir die ersten Delphine.

Und dann passiert etwas, mit dem ich nicht gerechnet habe. Mit an Bord sind zwei ältere Damen, die auf mich den Eindruck machen, sie seien zwei Freundinnen, die auf einem gemütlichen Ausflug zu den Walen sind. Doch kaum zeigt sich die erste Finne über Wasser, zücken sie ihre Kameras, an denen armlange Teleskop-Objektive angeschraubt sind. Sobald nur das kleinste Stück Finne zu sehen ist, starten die Salven wie Schnellfeuergewehre. Viel mehr ist von den Orcas nicht zu sehen. Ich dachte ja, mit meiner Kamera bin ich ganz gut für die Wale ausgerüstet. Aber da geht noch was.

Und noch etwas denke ich mir: Wenn ich zurückkomme, buche ich mir eine eigene, individuelle Tour zu den Walen. Denn ich bin sicher, dass ein paar Minuten mehr Zeit durchaus etwas gebracht hätten.

Andres fährt mit uns auch noch in eine Bucht, die bekannt dafür ist, dass Bären hier bei Ebbe nach Krabben und Muscheln suchen. Er hofft, dass wir einen oder zwei Schwarzbären sehen. Doch die Tiere zeigen sich nicht. Andres sagt, dass Bären extrem gut hören und sehr sensibel auf laute Geräusche reagieren. Und ich frage mich, ob es wirklich möglich ist, sie zu sehen, wenn wir mit zwei 300 PS-Außenmotoren auf die Küstenstreifen zurasen. Zwar nimmt er ein Stück davor das Gas weg und stellt am Ende die Motoren ab, aber ich denke, wir sind trotzdem schon von weitem zu hören. Heute haben die Bären keine Lust, sich beobachten zu lassen.

Überall auf Vancouver Island und British Columbia wird darauf hingewiesen, dass dies Bärenland ist. Alles ist darauf ausgerichtet, die Tiere zu respektieren und vor allem nicht anzulocken. Man kann eigentlich keinen Meter gehen, ohne auf ein entsprechendes Hinweisschild zum korrekten Verhalten zu treffen. Hier auf der Insel leben vor allem Schwarzbären. Die größeren Grizzlys sind eher auf dem Festland und vielleicht ganz im Norden der Insel zu sehen. Als ich am Columbia Icefield den Skywalk gelaufen bin, hat dort ein junger Mann auch das Verhalten erklärt. Trifft man auf einen Schwarzbären, sollte man kämpfen. Sich groß machen, rufen und wenn er trotzdem angreift, sich wehren, was die Muskeln hergeben. Bärenspray kann man nutzen, aber man braucht schon den Wind auf seiner Seite, um das scharfe Zeug am Ende nicht selbst in den Augen zu haben. Trifft man auf einen Grizzly, gibt es nur ein Verhalten. Flach auf den Bauch legen, die Hände hinter den Nacken, um ihn zu schützen und möglichst flach atmen. Ist ein Grizzly in Angriffsstimmung, kann ihn erst der Tod des Gegners aufhalten. Also tot stellen. Am wichtigsten ist es jedoch, den Bären nicht zu erschrecken. „A scared bear is a dangeous bear“ – ein ängstlicher Bär ist ein gefährlicher Bär.

Aber wir sehen Orcas. Es ist eine Großmutter mit ihren beiden Töchtern und einem Enkel, sagt eine der Frauen mit dem riesigen Objektiv. Sie scheinen die Wale zu studieren und zeigen uns anhand von Zeichnungen, wie sie die Tiere untereinander unterscheiden können. Wir sind nicht die einzigen. Sobald eine Gruppe gesichtet wird, funken die Skipper untereinander die Standorte. Zwar gibt es Vorschriften, wie viel Abstand zu halten ist und sie stellen auch die Motoren ab, aber ich denke mir manchmal, ob es für die Tiere gut ist, jeden Tag so verfolgt zu werden. Und ich empfinde eine kleine Schadenfreude, wenn die Tiere ab- und weit entfernt erst wieder auftauchen. Irgendwann habe ich genug, die Zeit könnte jetzt langsam vorbei sein.

von der Kamera abfotografiert.

Auf Stuart Island machen wir einen kurzenLunchbreak. Der ist bei diesem Ausflug inklusive. Auf der Terasse eines im Moment geschlossenen Cafés genießen wir belegtes Toast, Schokolade, Coockie mit Rosinen, Chips, Wasser und Orangensaft.

Auf der Insel gegenüber scheint es ein etwas gehobeneres Resort zu geben, denn es kommt gerade ein Hubschrauber an, der Gäste abholt oder bringt. Ein bisschen Dekadenz mitten in der Wildnis.

Noch mehr beeindruckt mich jedoch die hereinziehende Flut. Von hier oben hört es sich an wie das Rauschen eines Wasserfalls, so stark strömt das Wasser zurück in die Bucht.

Auch wenn die Orcas das eigentliche Ziel der Fahrt sind, lerne ich einiges über das Meer. Gestartet sind wir in Campbell River während Low Tide, also der Ebbe. Als wir entlang der Strait of Georgia weiter nach Norden fahren, beginnt langsam die Flut. Die ist hier zum Teil so stark, dass sich regelrechte Whirlpools bilden, die durchaus gefährlich werden können. Zu Beginn der Reise sind sie noch leicht und eher faszinierend, doch als wir später den schmalen Buchten zwischen den Inseln folgen, werden sie zu regelrechten Stromschnellen. Hier bekomme ich einen kleinen Eindruck, wie sich Wildwasser-Rafting anfühlen kann. Souverän fährt Andres unsere Nussschale „Ikaika“ durch die Ocean Rapids, wie die Whirlpools hier genannt werden.

Ich frage ihn, ob der Name unseres Bootes eine Bedeutung hat. „Ikaika“ sagt er „kommt aus dem hawaiianischen“ und bedeutet ‚the strong one‘ – die Starke. Sie ist für genau dieses Wasser gebaut.“

Ikaika

Auf dem Weg durch die Strait of Georgia darf „Ikaiga“ zeigen, was sie kann. Der Wind hat aufgefrischt und Wellen schlagen gegen den Bug. Eigentlich sind sie nicht sehr groß, doch wir sind nur eine Nussschale und fahren gefühlt eine Berg- und Talbahn aus Beton. Immer wieder krachen wir mit Wucht auf das Wasser. Ich muss meine Zunge im wahrsten Sinne gerade in den Mund nehmen, um nicht auf sie zu beißen. Und die Strait of Georgia wird gefühlt breiter und breiter. Bestimmt zwanzig Minuten geht es so, bis wir in die nächste Bucht und damit in ruhigeres Gewässer kommen.

Dann laufen wir im Hafen ein und ich bin ehrlich gesagt, ein bisschen froh.

Auf dem Rückweg hole ich mir noch schnell im Superstore etwas zu essen.

An diesem Abend spricht mich Evi aus Bayern an. Sie startet gerade ihre Neun-Wochen-Tour durch Kanada und wir tauschen unsere Erfahrungen aus. Nicht nur zum reisen.

größer als mein Camper