Diesen Tag beginne ich mit einer Runde am See. Als ich ankomme, liegt er noch unbewegt vor mir und spiegelt die Landschaft um ihn herum. Am Strand erkenne ich Pfoten-Spuren, eine davon ist ziemlich groß. Dreimal komme ich an eine Stelle, an der eine Tropfen-Spur vom Wasser auf den Strand führt. Und dann eine kreisrunde Wasserspur, an der sich das Tier kräftig geschüttelt haben muss. Aber es ist kein Bär, denn in der Ferne sehe ich die junge Frau mit ihrem großen weißen Schäferhund.

Bis auf die beiden bin ich allein auf der Welt. So fühlt es sich zumindest an. Und ich verbinde mich wieder mit der Natur um mich herum. Das ist hier so einfach, dass es fast schon von selbst passiert.

Irgendwann ist es Zeit umzudrehen, denn ich habe heute noch ein Stück Weg vor mir. Diesmal laufe ich auf der Hauptstraße des Campgrounds entlang und schaue zu, wie die Menschen langsam erwachen. Einer hat schon ein Feuer entfacht, andere sitzen beim Frühstück und wieder andere sehen nur so aus, als seien sie schon anwesend. Sie sind möglicherweise noch in ihren Träumen. Aber alles geschieht in Stille, keine Hektik, eins nach dem anderen. An diesem Ort kann man herunterfahren, die Seele baumeln lassen und einfach nur genießen.

Auf meinem Weg komme ich an der Entsorgungsstation vorbei. Wie auf jedem Campingplatz, an jedem Rastplatz und in den Städten und Dörfern sind auch hier die bärensicheren Abfallbehälter aufgestellt. Sie haben keinen klassischen Griff, man öffnet sie, indem man die Hand in eine schmale Öffnung steckt, in deren Innerem die Entriegung ist. So können die cleveren Bären nicht an den Inhalt heran. In die blaue Tonne kommt Plastikmüll. Das kleine Häuschen ist ein Plumpsklo. Auch die stehen hier überall – an Parkplätzen oder auch auf Campingplätzen mitten in der Natur.

Eine andere Besonderheit sind die Boxen für alle, die mit dem Zelt unterwegs sein. Hier können sie ihre Lebensmittel sicher verstauen und haben es nicht unmittelbar an ihrem Zelt. Es stehen auch überall Schilder, dass alle Lebensmittel entweder im Camper oder in einer solchen Box aufbewahrt werden sollen. Damit werden die Bären gar nicht erst angelockt und sie kommen so nicht auf die Idee, bei den Menschen könnte es Futter geben. Denn dann werden sie gefährlich.

Hier könnte ich mir vorstellen, ein paar Tage zu bleiben und setze es auf meine „to do when Iˋm back“-Liste. Aber mich treibt es an, ich möchte gern so viel wie möglich sehen.

Im nächsten Ort – Naskup – gehe ich in den Supermarkt und kaufe mir genau drei Sachen: Milch, ein belegtes Croissant und Orangensaft. Es ist Samstag und da ist in Naskup Wochenmarkt. Jeden Samstag von 9 am bis 3 pm. Ich finde die zehn kleinen Stände bezaubernd und bummel an ihnen vorbei.

Da spricht mich Shery an, die Taschen und Beutel aus Stoffen näht, die sonst weggeworfen würden. Sie bekommt die Stoffe von Firmen, die zum Beispiel Sitzbezüge herstellen und die sie sonst auf den Müll werfen würden. Aus ihnen näht sie zu Hause Taschen und verkauft sie auf den Märkten der Umgebung. „Ich bin leider nicht von hier und hab nicht so viel Platz im Gepäck“ sage ich ihr und sie fragt, wo ich herkomme. Dann erzählt sie mir, dass sie ursprünglich aus Ontario kommt aber sich in diese Gegend verliebt hat. Jetzt wohnt sie einige Kilometer vom nächsten Ort entfernt in einem rund 11 Meter langen Trailer ohne fließend Wasser oder Strom. Und sie ist glücklich damit. Umgeben von Natur und ihren Kindern, die jetzt auch auf dem Grundstück leben. Dann kommen wir auf Jasper und die Waldbrände zu sprechen. Vor ein paar Jahren habe es auch in ihrer direkten Umgebung gebrannt. Drei Wochen waren sie evakuiert und wussten nicht, ob ihr zu Hause noch steht, wenn sie zurückkommen. Ihr Sohn hatte eine Schneise rund um ihr Grundstück in den Wald geschlagen, um so die Flammen abzuwehren. Als sie es erzählt, rötet sich ihr Gesicht und ich kann ihr ansehen, dass der Schock und das Trauma noch tief in ihr sitzen. „Never again“, sagt sie „so etwas will ich nie wieder erleben.“

Diese Begegnung beeindruckt mich nachhaltig und ich gehe zurück zum Camper. Was, wenn ganz plötzlich alles, was dir wichtig ist von einer Naturgewalt bedroht ist? Tagtäglich passiert das Menschen auf diesem Planeten. So gern wir alles unter Kontrolle hätten, die Natur hat immer das entscheidende Ass im Ärmel.

Liquor Store. Nur hier gibt es Alkohol zu kaufen. Ich war nicht drin – ich war noch versorgt.

Ich verlasse diesen kleinen Ort, um weiter nach Südwesten zu fahren. Der gestrige Tag war zwar ein fast schon irrwitzer Umweg aber jeder Kilometer davon hat sich gelohnt. Jetzt fahre ich erst nach Süden und dann Richtung amerikanische Grenze. Hier liegt das einzige Wüstengebiet Kanadas – am Osoyoos Lake.

In New Denver tanke ich den Wagen voll. Einerseits fahre ich ziemlich viel, andererseits ist mein zu Hause auch ziemlich durstig. Und so tanke ich gefühlt jeden zweiten Tag für rund 200 Dollar. Mit Umrechnungskurs 1 kanadischer Doller = 0,64 Euro macht das rund 130 Euro pro Tankfüllung. An den Zapfsäulen, die häufig „self-service“ sind, wählt man erst aus, für welche maximale Summe man tanken möchte. In Alberta konnte ich noch bis 350 Dollar angeben, hier in British Columbia sind es noch maximal 250 Dollar. Woran das liegt, hab ich noch nicht herausgefunden. British Columbia ist ganz allgemein um einiges teurer als Alberta. Das merke ich auch und vor allem an den Tankstellen. Kostete der Liter in Alberta noch rund 132 bis 142 Dollarcent, sind es hier immer über 150 Cent, oft sogar über 160 Cent. Auch die Campgrounds kosteten mit allem Service wie Strom und Wasser zwischen 30 und 40 Dollar – das sind rund 20 bis 30 Euro. In BC, wie British Columbia hier abgekürzt wird, sind es immer mehr als 50 Dollar – also ab 30 Euro aufwärts.

Unvermittelt bin ich jetzt im ZZ Top-Land gelandet. Wohin ich auch schaue, haben die Männer Vollbahrt, je grauer er ist, desto länger ist er auch. Und desto schmaler sind die langen Zöpfe, die unter den Basecaps herausschauen. Auch die jungen Männer tragen hier Bart. Das hier ist eindeutig Bartland.

New Denver

Immer weiter nach Süden fahre ich. Weiter durch die endlosen Wälder. Immer wenn ich durch die kleineren Orte fahre, versuche ich die Häuser zu fotografieren. Doch jetzt sehe ich, dass sich jedes einzelne davon hinter der Hecke oder einen großen Baum versteckt hat. Diesmal wird es also wieder nichts.

An einer kleinen „Rest Area“ – einem Parkplatz- bleibe ich noch einmal stehen. Er liegt zwar direkt am Highway aber auch neben einem Fluss. Dessen Geräusche schlucken die Motorengeräusche der vorbeifahrenden Autos. Dieser Platz wäre perfekt für eine Übernachtung. Aber das weiße Schild hat schon beim ankommen in roter Schrift davor gewarnt: „No Camping. No Overnight stay“. Ich frage mich, ob es wirklich möglich ist, bei der Fülle der Plätze jeden einzelnen jeden Tag zu kontrollieren.

Ich fahre schon ewig durch dieses Land aber nach Wüste sieht hier gar nichts aus. Grün wohin das Auge blickt, auf den Bergen Schnee und überall rauschen Wasserfälle und Flüsse in Seen, auf die sich unvermittelt ein Blick öffnet. Ich warte auf die Kakteen, auf heiße Sonne und auf wasserloses Ödland. Zumindest stelle ich mir so eine Wüste vor.

Und dann verändert sich die Welt doch. Die Bäume werden weniger und geben den Blick frei auf grüne Weiden, auf kilometerlange Wein- und Obstplantagen und auf vereinzelte Farmen. Und noch etwas beginnt: die Bewässerung. Überall werden die Plantagen und Wiesen mit riesigen Sprenklern gewässert.

verschmutzte Frontscheibe – sorry

Es ist ziemlich warm geworden. Im Gegensatz zu den einstelligen Rocky Mountains habe ich hier gut mehr als 20 Grad Celsius. Das ist mir fast schon etwas zu warm aber wer Wüste will muss Hitze aushalten.

Und dann komme ich an, in Osoyoos, Kanadas wärmster Gegend. Es erinnert nicht ohne Grund an die Gegend um Peachland. Denn beide Orte liegen im Okanagan Valley. Ich bin jetzt am südlichsten Zipfel des kanadischen Teil des Tales und damit nur etwa 3,5 Kilometer von der Grenze zur USA entfernt.

Auf meinem ursprünglich herausgesuchten Campingplatz ist nichts mehr frei. Ich bin ein bisschen traurig, hatte ich ihn mir doch ausgesucht, weil er den First Nations gehört. Ich ziehe unverrichteter Dinge von dannen und suche mir einen anderen Platz. Der, auf dem ich dann lande scheint auf den ersten Blick – sagen wir – unkonventionell. Genauso wie sein Besitzer, ein junger Mann mit einem Zigarettenstummel als Ohrring und dem Filmplakat von „Fear and loathing in Las Vegas“ mit Johnny Depp tätowiert auf der linken Wade. Ich habe den Film nur ein kleines Stück gesehen, es ist eine wilde Drogenfahrt durch Las Vegas. Mir war das zu schräg. Es mir auf die Wade tätowieren wäre mir so gar nicht als Idee bekommen.

Der junge Mann will den Campground wieder aufbauen der in den letzten Jahren ziemlich verwahrlost ist. Er scheint aber noch recht am Anfang zu sein. Ich suche mir trotzdem ein Plätzchen und bin sehr angenehm überrascht, wie schön die Plätze schon angelegt sind. Ich kann sogar auf den See und auf den Campingplatz neben uns schauen. Auf dem stehen die Trailer – meist Dauercamper mit riesigem Anbau – eng an eng. Wir hingegen haben gut Platz. Ich setze mich auf eine Bank und schreibe, als es im Baum neben mir plötzlich raschelt und ein Ast ziemlich grob rauf und runter bewegt wird. Bald zeigt sich das Eichhörnchen, das gerade dabei ist, sein Abendbrot zu sammeln. Die Nachbarschaft gefällt mir schon mal.

Am nächsten Morgen will ich eigentlich recht früh los, wenn die Sonne noch nicht so stark ist. Das gelingt mir natürlich nicht, Punkt 11 Uhr in der schönsten Mittagshitze erreiche ich das Desert Center von Osoyoos. Ich sehe noch immer keine Kakteen und frage mich, ob das alles nur ein Scherz ist. Aber auf dem rund 1,5 Kilometer langen Steg durch das Gebiet lerne ich eine Menge, was Wüste alles sein kann.

der kleine Punkt ganz oben – das ist die Wüste

Das wichtigste: alles, wo Pflanzen und Tiere leben, die in der Wüste ihren Lebensraum haben, ist per se eine Wüste steht in meinem kleinen Heft, dass ich sogar auf deutsch bekomme. Geografisch befinden wir uns am äußersten nördlichen Zipfel eines subtropischen Steppenklimas. Dominierendes Gewächs ist der Antilopenstrauch, deshalb wird es auch „Antilopenstrauch-Ökosystem“ genannt. Der Strauch kann oberirdisch bis zu drei Meter hoch werden. Unter der Erde können sich seine Wurzeln jedoch bis in eine Tiefe von 4-5 Metern und mehr erstrecken. Damit kommt er an die wichtige Feuchtigkeit tief unter der Oberfläche heran.

Die meisten Tiere, die hier leben, sind vor allem dämmerungs- und nachtaktiv. Dazu gehören Kojoten, Rotluchs, Rotwild und der Bär. In meiner Broschüre lese ich, wie genau der Kot der Tiere aussieht und mit meiner laienhaften Einschätzung finde ich dann auch Spuren, die durchaus dem Kojoten gehören könnten. Auch Schlangen leben hier, Fledermäse und kleine Käuze. Das alles ist liebevoll beschrieben und an einzelnen Stationen muss man regelrecht auf Entdeckung gehen, um alles zu finden. Von der Tierwelt habe ich leider nichts gesehen, aber mit geschärftem Blick und einer großen Portion Aufmerksamkeit habe ich viel gelernt. Wer immer in die Gegend kommt: die Wüste ist meine Herzensempfehlung.

kaum zu sehen – doch es sind Kakteen

Wie so viele Ökosysteme ist auch dieses stark gefährdet. Ringsum wird gebaut und Platz geschaffen für neue Plantagen. Und die Bewässerung entzieht der Erde die Feuchtigkeit.

Mein nächster Stopp ist eine Winery. Wenn ich schon im kanadischen Weinland bin, möchte ich das Ergebnis auch kosten. Dabei stelle ich fest, dass ich am Abend zuvor am falschen Campingplatz war. Der Platz der First Nations war rechts der Straße, Google dachte jedoch, es sei links. Das Navi lag falsch und ich hab nicht aufgepasst. Zum Campingplatz gehört auch ein Informationszentrum mit angeschlossenem Souvenirshop, eine komplette Ferienanlage mit Pool und Rutsche und eben die Winery bzw. Cellar. Die First Nations, denen das alles gehört sind die Nk’Mip (sprich „in-ka-meep“), die im Okanagan Valley heimisch sind. Es ist eine ziemlich große und gepflegte Anlage und nach dem Kindergeschrei ist sie auch gut gebucht. Ich kaufe einen Weißwein und einen Rotwein, dann geht es los Richtung Vancouver. Gute 350 Kilometer.

Aber ich werde noch einen Zwischenstopp machen, denn ich möchte auf keinen Fall nachts fahren und mir dann einen Schlafplatz suchen müssen. Ich lese, dass auf gut der Hälfte der Strecke der Ort Hope liegt. Das klingt sehr gut in meinen Ohren. Dort angekommen, fahre ich zum „Telte-Yet-Campground“. Ich parke am Office, als ein junger Mann auf mich zukommt. „I would like to stay here for one night“ sag ich ihm. Er schaut mich an und fragt: „would you say, you are a senior?“ (würden Sie sagen, sie sind Seniorin). Ich bin mir nicht sicher, ob ich das richtig verstehe. Ja, ich hab graue Haare aber die Falten halten sich noch in Grenzen. Bislang hat mich noch niemand älter geschätzt. Im Gegenteil. „Yes, you are a senior.“ sagt er, dreht sich um und geht zum Office. Ein bisschen empört bin ich schon, als mein Blick auf das Schild mit den Preisen fällt. Adults zahlen 60 Dollar, Senioren 50. Alles klar, er will mir einen Rabatt anbieten. Sofort ändert sich meine Laune, ich folge ihm und sage „yes, I am a senior. I am very old.“

Er checkt mich ein und lässt mich meinen Platz selbst finden. Und den finde ich, am Fraser River in der ersten Reihe. Und das Sani-Haus ist das erste auf meiner Reise, das angenehm geheizt ist. Das nenne ich Volltreffer.

Mein Ausblick