Heute will ich den Icefields Parkway fahren. 232 Kilometer durch die Rocky Mountains. Vom Banff Nationalpark zum Jasper Nationalpark. Möglicherweise ist das die bekannteste Route für Besucher in Kanada. Ich habe drei Zeilen darüber gelesen und sofort beschlossen, dass ich diese Straße fahren will. Mit Lake Louise bzw. dem Yoho Nationalpark, in dem ich übernachtet habe, bin ich in einer super Startposition dafür. Ich packe also meine sieben Sachen zusammen, checke alles einmal: Warmwasser-Bereiter – aus, Wasserpumpe – aus, Kühlschrank – verriegelt, Fenster – zu, alle Schranktüren und Schubladen – geschlossen, Eingangstür – verriegelt, Herd – aus, Badtür – geschlossen. Alles ist bereit, nichts kann beim bremsen durch den Wagen fliegen. Manchmal fühle ich mich bei diesen Kontrollgängen wie eine Stewardess vor dem Start. Nur ohne die vielen Passagiere.

Schweinerei am Morgen

Es ist also alles sicher verstaut und kann losgehen. Ein Stück entfernt vom Campingplatz gibt es eine Dump-Station, also eine Abwasser-Entsorgungsstation für Wohnmobile. Das ist nicht meine liebste Tätigkeit aber sie ist notwendig. Während es in Deutschland einen separaten Tank für die Toilette und einen für das Schmutzwasser gibt, kommt hier alles zusammen. Und das ist so richtig eklig. Fotos hab ich davon keine, es war einfach zu widerlich. Kurz gesagt holt man einen ziemlich beweglichen dicken Schlauch aus einer dafür vorgesehenen Luke am Wohnmobil, befestigt eine Seite am Abfluss vom Wohnmobil und steckt die andere Seite in ein dafür vorgesehenes Loch im Boden. Dann öffnet man den schwarzen Hebel für die Toilette und lässt alles raus. Anschließend wird durch die Öffnung des grauen Hebels das Schmutzwasser abgelassen, dass gleich den Schlauch spült. So weit, so gut. Das hatte ich schon zu Hause im Video von „Cruise Canada“, meinem Vermieter, angeschaut. Die Realität jedoch ist weit von diesem Hochglanzvideo entfernt. Denn nachdem alles abgelassen ist, muss dieser bewegliche Schlauch wieder in die dafür vorgesehene Öffnung. Und woher auch immer, läuft ständig Flüssigkeit aus ihm raus, obwohl ich ihn einmal komplett entleert hatte. Dachte ich. Und weil das alles nicht schon eklig genug ist, werde ich zusätzlich von zwei wartenden Wohnmobilen unter Stress gesetzt. „Nie wieder!“ denke ich mir, pack zusammen und fahr ein kleines Stück zurück auf einen Parkplatz, um mich wieder zu beruhigen. Mit dieser Schweinerei hab ich nicht gerechnet.

Ich atme einmal tief durch und schau auf die Berge um mich herum. Dann starte ich den Motor und rolle Richtung Icefield Parkway. Und hier beginnt ein 10-Minuten-Tag. Die Umgebung ist so schön, dass ich alle 10 Minuten anhalte, um zu schauen und Fotos zu machen.

Icefields Parkway – der Weg durch die Rockies

Bow Lake

Ich komme aus dem staunen nicht heraus. Alles ist unberührt und die Berge stehen da, majestätisch mit ihrer Schneekappe und ungerührt von allem um sie herum. Es gibt sie schon so lange und es ist ihnen egal, was passiert. Es ist eben wie es ist. Und wenn die kleine Claudi mit ihrem niedlichen Wohnmobil hier durchfahren will, dann soll sie das halt machen.

Hier oben gibt es verschiedenste Campgrounds, sehr einfach und ohne Strom oder Internet. Die sogenannte Zivilisation hat hier nichts zu suchen. Die meisten Camps sind jedoch noch geschlossen. Hier beginnt erst im Juni die kurze Saison.

Mistaya Canyon

Nach einer Weile wird auf einem Schild „Mistaya Canyon“ angezeigt. Und da gerade wieder 10 Minuten um sind, fahre ich links raus und stelle mich auf den Parkplatz. Der Canyon ist rund 400 Meter vom Parkplatz entfernt. Der Weg ist breit und mir kommen immer mal wieder Menschen entgegen. Hier wird sich sicher kein Bär aufhalten und ausgerechnet auf mich warten. Trotzdem kann ich so ein unterschwelliges Gefühl der – ja was? – Vorsicht, Furcht? nicht ablegen. Aber da muss ich jetzt durch. Merke: „im Frühtau zu Berge“ hilft beim beruhigen und ist vermutlich schräg genug. Ich erinnere mich an unseren Ausflug am Lake St. Ana in Rumänien und daran, dass die Bärin dort trotz ihres Jungtiers keine Angriffsambitionen zeigte. Und wir waren vermutlich weniger als 100 Meter von den beiden entfernt.

Von hier oben kann ich den Fluss schon hören. So wie das klingt, stürzt hier ziemlich viel Wasser in die Tiefe. An einigen Stellen ändert sich die Frequenz des rauschens und es vibriert leicht in meinem Ohr. Dennoch bin ich nicht auf das vorbereitet, was sich jetzt vor mir öffnet:

Über die Jahre hat sich der Mistaya River hier tief in das Kalkgestein gegraben. Hat Sprudeltöpfe und spektakuläre Kurven herausgewaschen. Schon von der Brücke ist das Schauspiel beeindruckend. Aber ich will näher ran, will tiefer in die Gräben schauen.

Ich bin wie immer nicht die einzige hier aber das tosen des Wassers verschluckt jedes andere Geräusch. Ein sensationelles Schauspiel. Beschwingt laufe ich das kleine Stück Waldweg zurück zum Auto. Bislang hat sich jeder Stopp doppelt gelohnt. Als ich auf den Highway fahre, sehe ich, wie sich links von mir zwei Kanadagänse erheben und in meine Richtung fliegen. Eine davon bekommt vermutlich nicht genug Luft unter die Flügel und kommt dem Auto gefährlich nahe. Ich bremse stark ab und sie verfehlt den Alkoven nur knapp. Und ich habe den Beweis, dass ich gut gepackt habe.

Saskatchewan River Crossing

Und der nächste tarnt sich als kleiner Parkplatz mit Aussicht. Das ist es am Ende auch. Aber hier münden der Mistaya River und der Howse River in den North Saskatchewan River. Alles überragt von den Dreitausendern Mount Wilson, Mount Erasmus und Mount Murchison. Das ist mein persönliches Kanada-Idealbild.

Hier lese ich das erste Mal von den Entdeckern dieses Landstriches. Pelzhändler mussten dieses Tal durchqueren auf ihrem Weg nach Osten – nach British Columbia. Von meinem Aussichtspunkt hier oben kann ich mir vorstellen, was für Anstrengungen die Menschen damals auf sich genommen haben, um diese undurchdringliche und unbarmherzige Wildnis zu erobern. Weit vor diesen neuen Abenteurern war hier jedoch schon die Handels- und Jagdroute der First Nations. Und ich frage mich, wie unterschiedlich diese beiden Gruppen wohl vorangekommen und mit dem Land umgegangen sind. Und ob es für die First Nations leichter war, da sie sich der Natur angepasst und sie nicht unterworfen haben.

Columbia Icefield

Ich bin ungefähr auf halber Strecke nach Jasper im gleichnamigen Nationalpark und ich habe mein großes Ziel für heute noch nicht erreicht: das Columbia Icefield. Von Fahrten auf den Gletscher und Skywalks in schwindelnder Höhe hab ich gelesen. Da will ich hin. Ich versuche, nicht mehr an jedem Haltepunkt stehen zu bleiben, sondern jetzt mal durchzufahren.

Das gelingt mir auch und bald erreiche ich den Gletscher. Und bin maximal entsetzt bei dem Anblick, der sich mir bietet. Vom Gletscher selbst ist kaum mehr etwas zu sehen. Lediglich die Geröllhaufen an den Bergflanken zeigen, wie groß und mächtig er einst gewesen ist. Und am Visitor Center zeigt ein Bild, dass der Gletscher vor 100 Jahren noch dort war, wo heute mein Wohnmobil steht. Auf dem Gletscher erkenne ich mehrere Offroad-Busse. Sie fahren zahlungswillige Besucher aufs Eis und wieder zurück. An der Stelle, an der die Busse halten, sehe ich viele kleine Figuren, die auf dem einst weißen Schnee ihre braunen Abdrücke hinterlassen. Ich will mir das alles nicht auch noch aus der Nähe anschauen. Der Anblick ist von der Ferne schon kaum zu ertragen.

heute
vor 100 Jahren

Okay, das war also nix. Aber der Skywalk ist noch offen. Zielstrebig kaufe ich mir ein Ticket und begebe mich in die perfekte Organisation der Kanadier. Erst wieder eine Reihe bilden, die Eintrittskarten scannen und dann am Busterminal D (ja, es gibt vier Terminals am Visitor Center) auf den Bus warten. Die Kanadier stehen vermutlich genauso gern in der Schlange wie wir.

Der Busfahrer erzählt uns unterwegs, dass der eigentliche Gletscher nicht die Zunge ist, die wir vom Center aus sehen können, sondern dass sich das Columbia Icefield über mehrere Bergrücken erstreckt. 300 Meter dick ist der Eispanzer da oben noch und sein Schmelzwasser fließt über mehrere Flüsse in drei verschiedene Ozeane. „Jeder von Euch“ so sagt er „ist schon mal mit Wasser von diesem Gletscher in Berührung gekommen.“

Nach zehn Minuten Fahrt kommen wir am Skywalk an. Den hab ich mir irgendwie auch anders vorgestellt. Aber so ist das mit den Vorstellungen. Die Konstruktion aus Stahl ist schon interessant und auch der Weg über Glas mit Blick direkt den Abhang hinab ist auch irgendwie gut aber es nimmt mich nicht so richtig mit. Aber der Blick ins Tal ist schön.

Jetzt bin ich randvoll mit Eindrücken. Mehr geht beim besten Willen nicht. Und der Weg bis Jasper ist noch lang. Ich will weiterkommen. Direkt am Gletscher dürfte ich stehen bleiben und übernachten, aber der Anblick macht mich eher traurig. Und kalt ist es außerdem. Ich starte also den Motor und fahre weiter nach Norden. Unterwegs mache ich aus dem Cockpit heraus Fotos vom Weg, denn so ganz lässt mich die Faszination noch nicht los.

Jasper Nationalpark

Plötzlich verändert sich die Landschaft. Abrupt und unerwartet ist das grün einem braun-schwarz gewichen. Vor nur wenigen Tagen habe ich erst davon gelesen und mich an die Bilder erinnert. Aber ich hab es nicht so verarbeitet, dass ich jetzt genau in dieses Gebiet fahre: der Jasper Nationalpark war 2024 Opfer der verheerenden Waldbrände in Kanada. Auch die Stadt Jasper hat es zu einem Drittel erwischt. Mir wird ganz mulmig als ich weiterfahre. Was wird mich wohl erwarten?

Bis nach Jasper zieht sich dieser Anblick. Den „Waipiti Campground“, den ich mir ausgesucht habe, gibt es noch nicht wieder. Er wird gerade wieder aufgebaut. Der vermutlich einzige geöffnete Campground ist der „Whistler“. Und hier stehen wir nun alle. Insgesamt 700 Plätze gibt es hier und ich hab sogar Glück und bekomme den letzten mit Stromanschluss. Es ist ein bisschen bizarr, denn inmitten der Flammenwüste sitzen die Kanadier vor ihren Trailern und RVs und genießen ihr Feuer. Umringt von verkohlten Bäumen und frisch gesägten Stümpfen.

Das außergewöhnlichste an diesem Platz sind aber die Waipiti. Größer als unsere europäischen Hirsche spazieren sie über den Platz und lassen sich von den Menschen nicht beeindrucken. Der Mann am Empfang hatte mich vor ihnen gewarnt. Die Weibchen haben gerade Junge und können sehr agressiv werden. Aber sie haben keine Wahl. Als ich mir die schwarzen Hügel um mich herum anschaue, wächst das einzige Gras in der Umgebung auf dem Campingplatz.